
as tägliche Ritual: Ein letztes Mal die Nase pudern, den Lippenstift nachziehen, sich schnell mit dem Kamm durch die Haare fahren, den Schal zurecht zupfen und den Blazerkragen richten – ein kurzer kontrollierender Blick in den Spiegel –, bevor man das Haus verlässt und sich den Blicken der Umwelt aussetzt. Auch ich tue es ganz selbstverständlich. ohne nachzudenken, denn Zufriedenheit mit dem eigenen Aussehen vermittelt Sicherheit und Selbstbewusstsein. Keine Frau möchte "nackt", ohne selbstgewähltes Erscheinungsbild, auf die Straße gehen.
Seit Menschen gedenken legen Frauen Wert auf ihr Äußeres. Bereits die Ägypterinnen, Etruskerinnen, Griechinnen und Römerinnen hatten einst ein ausgeprägtes Faible für Schminktöpfe und Cremetiege. Die Freunde an Samt und Seide, an Lippenrot und Eau de Parfum, an Perlen und Seidentüchern ist zeitlos. Frauen aus allen Kulturen und aus allen Religionen achten auf sich, um Weiblichkeit, Selbstachtung und Würde zu wahren.
Doch das machen Frauen, deren Welt bedroht oder längst untergegangen ist, die keine Gelegenheit haben, sich die Nase zu pudern, die Lippen nachzuziehen oder ihr Lieblingskleid aus dem Schrank zu holen? Bella Figura machen – ist dies nur Frauen in Zeiten des dolce far niente, des
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LIPPENSTIFT FÜR DIE WÜRDE
süßen Müßiggangs, vorbehalten? Oder ist im Krieg, im Gefängnis, auf der Flucht, im Lager, in einem totalitären Staat die Sehnsucht danach nicht ebenso groß? Ist es "angebracht", sich in Zeiten großer Not Gedanken über das Aussehen zu machen, gilt es gar als Tabu? Gibt es in solchen Situationen nicht weitaus "Wichtigeres"? Menschen, die diese Frage stellen, haben, so die bosnische Journalistin Samra Lučkin, die während des Krieges in Sarajevo lebte und arbeitete, "... nie Krieg, Konflikt oder Bombardement erlebt".
Auf sich zu achten unterstreicht immer auch den Überlebenswillen. Zarema Mukusheva, die den ersten Tschetschenienkrieg in einem Keller in Grosny überlebte, wischte sich jeden
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Morgen vor einer Spiegelscherbe den Ruß vom Gesicht, den ein kleiner Ofen hinterlassen hatte, kämmte sich und zog eine weiße Bluse an, die sie jeden Tag sorgfältig reinigte – denn: "Wenn du aufgibst und dich nicht mehr um deine Erscheinung kümmerst, hast du schon verloren".
Im Winter 1995, kurz bevor das Abkommen von Dayton, das den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete, ratifiziert wurde, fuhr ich nach Sarajevo, um Frauen zu treffen, die den Krieg in der eingekesselten Stadt überlebt hatten. Die Frauen Sarajevos, egal welchen Alters, welcher ethnischen Herkunft und Religion erzählten, dass sie während der Belagerung, trotz Granaten und Beschuss, alle geschminkt und sorgfältig gekleidet aus dem Haus gingen – selbst wenn sie stundenlang anstehen mussten, um ein paar Tropfen Wasser zu ergattern.
In jenen Kriegsjahren veranstalteten sie Modenschauen, Konzerte, einen "Miss Besieged Sarajevo"-Wettbewerb und zeigten Kleider, die aus Bettbezügen genäht waren in einer Ausstellung. Sonia Elazar, die Vorsitzende des Frauenclubs "Bohoreta" der jüdischen Gemeinde, eröffnete noch zu Kriegszeiten einen Schönheits- und Friseursalon in kleinen, verwinkelten Räumen in einem Nebenhaus der Synagoge. "Es war ein wenig Balsam für die Seele der Frauen", sagte
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